Technologie im Instrumentenbau des 19.Jahrhunderts und ihre musikalischen Auswirkungen

Prof. Dr. Christian Ahrens

Im Laufe des 19.Jh.waren insbesondere die Blasinstrumente einschneidenden Veränderungen unterworfen – Veränderungen, die heute allgemein als „Verbesserungen“ gelten. Hier sind namentlich die Konstruktion eines verbundenen Klappensystems der Holzblasinstrumente sowie der Ventile der Blechbläser zu nennen. Jenen Erfindungen brachten scheinbar uneingeschränkte Vorteile: eine Verbesserung der Intonation infolge der Anordnung der Tonlöcher nach streng akustischen Gesichtspunkten; eine Erleichterung des Spiels, speziell des haptischen Bewegungsablaufs; schließlich eine Vergrößerung des nutzbaren Ambitus, insbesondere die chromatische Erweiterung des Umfangs bei Blechblasinstrumenten. Angesichts dieser Errungenschaften müssen die relativ große Zahl von Gegenstimmen und die lang anhaltende Diskussion über Nutzen oder Schaden jener technischen Neuerung überraschen.

Nachfolgend soll daher der Versuch unternommen werden, einige Argumente der damaligen Diskussion aufzugreifen und der Frage nachzugehen, ob und inwieweit die technische Entwicklung tatsächlich neben unbestreitbaren Vorteilen bestimmte Einbußen mit sich brachte und welche Eigenheiten der bis dahin verwendeten Instrumentenmodelle preisgegeben werden mußten.

Die Vermehrung der Klappen, die einherging mit der Vergrößerung der Tonlöcher entsprechend den akustischen Erfordernissen, führte zweifellos zu einem Verlust an Kontakt zwischen den Fingern des Spielers und dem Tonloch. Dies hatte weitreichende Konsequenzen. Es entfiel z.B. die Möglichkeit, durch Bewegung der Finger über den Grifflöchern ein Vibrato zu erzeugen, das bis dahin als wesentliches Gestaltungs- und Artikulationsmittel verwendet worden war. Wollte der Musiker darauf dennoch nicht gänzlich verzichten, so mußte er es durch ein gezielt hervorgebrachtes Lippenvibrato ersetzen, dessen Nuancierung längst nicht so weitreichend waren.

Eine gravierende Veränderung ergab sich daraus, daß Gabelgriffe entbehrlich wurden. Was aber Theobald Boehm und andere als bedeutenden Vorzug betrachteten, begriffen viele Musiker als Verlust. In der Tat – die Entscheidung darüber, welche Griffe sie zur Korrektur der unsauberen Töne ihres Instrumentes einsetzen konnten (wobei die spieltechnischen Gewohnheiten ebenso ins Gewicht fiel, wie die Vorliebe für bestimmte Griffkombinationen, die akustischen Eigenheiten des Instrumentes etc.), war ihnen weitgehend genommen, da der Instrumentenbauer durch die Anlage des Klappensystems bereits eine Festlegung getroffen hatte, Daß viele Griffe bei den neuen Instrumenten nicht nur dazu dienen, einzelne Klappen für bestimmte Töne zu öffnen oder zu schließen, sondern daß Klappen anderer Tonlöcher aus Intonationsgründen gekoppelt waren, teilt sich dem Spieler zunächst nicht unmittelbar mit; insofern bemerkt er die künstlerisch-musikalischen Einbußen, ohne zu erkennen, wie und wodurch sie auf der technischen Ebene kompensiert wurden.

Nicht nur die oben angesprochenen, sondern auch weitere Folgen der Vervollkommnung des Klappensystems wurden lange Zeit kontrovers diskutiert: die Möglichkeit, bis dahin fehlende Instrumentenmodelle für die Tiefe zu entwickeln (z.B. Baßklarinette, Heckelphon), oder die Handhabung bereits existierender ( wie etwa des Kontrafagotts) so zu verbessern, daß ihr Einsatzbereich erheblich vergrößert werden konnte. Das Kontrafagott wurde zwar in der Orchestermusik seit dem ausgehenden 17.Jh. gelegentlich verwendet (u.a. von J.S.Bach in der Johannes-Passion), freilich blieb die Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Infolge der ungefügen Mechanik, der langen Hebelwege und der unhandlichen Gesamtform des Instruments war es selbst im späten 18.Jh. nicht möglich, bewegtere Passagen auszuführen. Heute ist es hingegen kein Problem, die anspruchsvolle Kontrabaßpartie in W.A.Mozarts Serenade B-Dur KV 361 (der sogenannten Gran Parita) auf einem Kontrafagott auszuführen und damit einen homogenen geschlossenen Bläsersatz zu erreichen.

Das Beispiel des Kontrafagotts verdeutlicht im übrigen, welche Konsequenz der technische „Fortschritt“ im Instrumentenbau generell hatte. Blieb der Einsatz einzelner Instrumente bis um 1800 an bestimmte musikalische Strukturen oder andere Voraussetzungen gebunden – sei es, daß man Rücksicht zu nehmen hatte hinsichtlich der Tonart, der Geschwindigkeit von Passagen, der Intonationsreinheit oder auch der Koppelung von Instrumenten in verschiedenen Lagen und Stimmungen, sei es, daß bestimmte Klangverbindungen nicht oder nur gelegentlich nutzbar waren -, so fielen mit der Vervollkommnung des Klappensystems fast alle Schranken. Was bis dahin allenfalls abstrakt denkbar war, das ließ sich nun auch in praxi realisieren. Dies aber machte vielen Musikern und Kritikern Angst. Zugegeben nicht allen, aber doch vielen, und man sollte diese Angst als historisches Phänomen ernst nehmen und zu verstehen suchen.

An drei Beispielen möchte ich zeigen, welche musikalischen Veränderungen die Erfindung der Ventile und der Einsatz der neuen Blechblasinstrumente bewirkten: den Kopfsätzen der Sinfonien Nr.7 D 944 von Franz Schubert; Nr. 1 op. 38 von Robert Schumann; Nr. 3 von Anton Bruckner. In den beiden erstgenannten Werken (entstanden 1825 resp.1841) wurde die langsame Einleitung untersucht, in der Bruckner-Sinfonie(1872/73) die Hauptsatz-Exposition.

Der Anteil jener Takte, in denen die Blechbläser mitwirken, beträgt 57,1%, resp. 81,6% und 75%. Zwar ist der Anstieg von 1825 zu 1841 deutlich erkennbar, bei Bruckner indessen finden wir keineswegs eine weitere Zunahme des Blechbläser-Satzes, sondern im Gegenteil einen leichten Rückgang. Dies trifft im übrigen auch auf die Verwendung der Hörner als jeweils einzige Vertreter der Blechbläsergruppe zu, die entsprechenden Zahlen lauten: Schubert = 20,8%; Schumann = 29,9%; Bruckner = 21%.

Entscheidender als die Einsatzfrequenz ist demnach offenkundig die ‚qualitas‘ des Blechbläsersatzes. Um diese näher bestimmen zu können, empfiehlt sich eine Betrachtung der Töne, die außerhalb der jeweiligen Naturtonreihe liegen (diese Töne ließen sich vor der Erfindung der Ventile nur auf dem Horn produzieren, und zwar mittels der sogenannten Stopftechnik).

Während bei Schumann h‘, es‘‘ und f‘‘ vorkommen und diese Töne ohne Ausnahme von dem anderen Hornpaar (und zwar offen geblasen!) oder den Posaunen verdoppelt werden, verwendet Schumann gleich mehrere schwer intonierbare und mit deutlicher Klangveränderung produzierbare Töne, die frei und ungedeckt geblasen werden müssen und daher in jedem Fall wahrnehmbar sind: a‘ und h‘, dazu das weniger heikle f‘‘. Die Töne werden zumeist im Sprung erreicht, also nicht in eine Folge offen zu blasender Töne eingebettet, was für den Bläser eine zusätzliche Erschwernis bedeutet und in hohem Maße risikoreich ist.

Eine gänzlich andere Nutzung der Blechblasinstrumente kennzeichnet die Bruckner-Sinfonie: Töne außerhalb der Naturtonreihe sind nicht nur in den Horn-, sondern auch den Trompetenstimmen vorgeschrieben (zu jener Zeit hatten sich die Ventilinstrumente bereits weitgehend durchgesetzt). Besonders bemerkenswert ist die Passage ab Takt 31, in der das gesamte Orchester unisono geführt wird. Da an dieser Stelle Hörner in F und B, jedoch Trompeten in D vorgeschrieben sind, ergibt sich eine besonders hohe Zahl von Tönen, die außerhalb der jeweiligen Naturtonreihe liegen: das cis vor der Fermate in Takt 32 ist, ebenso wie das g in Takt 33, in keiner Trompeten- resp. Hornstimme ohne Benutzung der Ventile zu blasen!

Es war nicht so sehr die Häufigkeit des Einsatzes von Blechblasinstrumenten als vielmehr dessen veränderte Qualität, die im 19.Jh. lebhafte und kontroverse Diskussionen auslöste. Daß man die Ventilinstrumente in jedem melodisch-harmonischen Kontext verwenden konnte und auf keine Beschränkungen mehr Rücksicht zu nehmen brauchte, erregte zumindest ebenso viel Widerspruch wie Zustimmung. In der Tat veränderte sich ja nicht nur das dynamische Potential des Orchesters und dessen Klangbild, sondern die Musik selbst, die erst jetzt gleichsam von allen technisch bedingten Fesseln befreit war. Diese „Freiheit“ hatte indessen auch ihren Preis, denn mit dem allgemeinen Übergang zu den Blechblasinstrumenten mit Ventilen gerieten bestimmte Interpretationsnormen in Vergessenheit, die sich aus den besonderen Bedingungen der Naturtoninstrumente ergeben hatten. Im einleitenden Hornsolo der C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert etwa führte die Einbeziehung von Stopftönen zwangsläufig zu einer charakteristischen Phrasierung: die ersten drei Takte mit ihrer Folge ‚offen – gestopft – halb offen‘ werden (leicht verändert) wiederholt, woran sich dann zwei Takte im Pianissimo anschließen. Nicht 2+2+2, sondern eben 3+3+2 ist die gleichsam „natürliche“ Gliederung jener Passagen, jedenfalls wenn man die Spezifika der damals zur Verfügung stehender Hörner zugrunde legt. Zwar läßt sich daraus nicht die generelle Forderung ableiten, die entsprechenden Töne auch auf den modernen Ventilhörnern gestopft zu blasen, gleichwohl wird man zumindest verläßliche Anhaltspunkte für eine historisch weitgehend authentische Ausführung des Solos im Hinblick auf Artikulation und Phrasierung gewinnen können.

Ähnliches gilt auch für die berühmte Hörnerstelle in der Ouvertüre zum „Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Gemäß der in zeitgenössischen theoretischen Werken erhobenen Forderungen, jeweils Hornpaare in verschiedenen Stimmungen zu verwenden, um möglichst viele Naturtöne nutzen und Stopftöne weitgehend vermeiden zu können, schreibt Weber Hörner in F und C vor, denen er abwechselnd Teile der Melodie zuweist, und zwar dergestalt, daß gestopfte Töne immer durch offene gedeckt werden. Im Takt 16 f. beispielsweise liegt die Oberstimme im F-Horn, a‘ und h‘ müssen gestopft werden, die jeweiligen Terzen im C-Horn indessen sind offen zu blasen. Bemerkenswerterweise aber trägt Weber die Fortführung der Melodie ab Takt 18 nicht dem C-Horn, sondern dem F-Horn und nimmt dabei bewußt in Kauf, daß in Takt 18 jeweils ein offener von einem gestopften Ton gefolgt wird, und daß in Takt 19 überhaupt nur Stopftöne erklingen.

Auch hier wird man kaum die Forderung erheben, die entsprechenden Stellen gestopft zu blasen, immerhin aber müßte man sich schon Gedanken darüber machen, wie man Webers Intentionen möglichst weitgehend respektieren könne – etwa dadurch, daß der Wiederbeginn in Takt 18 in der Lautstärke zunächst reduziert und erst mit dem Themensatz in Takt 22 der dynamische Höhepunkt erreicht wird.

Der 1817 erfundenen Ophikleide war nur eine kurze Zeitspanne der musikalischen Nutzung vergönnt, bereits ab 1840 wurde sie relativ rasch und weitgehend von der Ventiltuba verdrängt. Mit einer bedeutsamen Ausnahme freilich: in Frankreich nutzte man sie bis ins frühe 20.Jh. hinein zur Unterstützung des „plein chant“ (also des gregorianischen Choralgesanges) in der Kirche.

So weit die zeitgenössischen Urteile über die musikalische Leistungsfähigkeit des Instruments auch auseinandergingen, einig war man sich darin, daß die Ophikleide – außer für die Begleitung des plein chant – vor allem dort sinnvoll in der Instrumentalmusik eingesetzt werden könne, wo es gelte, entweder humoristische, oder auch schreckliche und beängstigende Gefühle auszudrücken und zu erwecken. Hierzu war der durchweg als heiser, rauh und wild charakterisierte Klang der Ophikleide vorzüglich geeignet.

Die besondere Funktion der Ophikleide als Begleitinstrument für den Choralgesang in der Kirche wie auch ihr starker, rüder Klang liefern die Begründung dafür, daß Hector Berlioz im Finalsatz seiner Sinfonie fantastique zwei Ophikleide einsetzte, um die Melodie des Dies irae auszuführen. Einerseits erlaubte es die Lautstärke der Ophikleide, sich gegenüber dem ganzen Orchester zu behaupten und die Choralstimme in der wünschenswerten Weise hervortreten zu lassen, andererseits weckte der Klang der beiden Ophikleide die Vorstellung von singenden Massen, d.h., er assoziierte die menschliche Stimme und den Text, obschon beide ja nicht direkt in Erscheinung treten.

Geht man davon aus, daß Hector Berlioz sich diese Wirkung bewußt zunutze machte und daß das zeitgenössische Publikum in Frankreich, das ja die besonderen Einsatzbereiche der Ophikleide aus eigener Anschauung kannte, des Komponisten Intentionen nachvollziehen konnte, so erscheint die Tuba unter rein musikalischen Gesichtspunkten zwar durchaus geeignet zur Ausführung jener Melodie, nicht aber unter jenen der programmatischen Konzeption. Es läge daher sehr viel näher, die Stimmen durch zwei Posaunen (allenfalls durch eine Posaunen und eine Tuba) ausführen zu lassen, weil dadurch die vom Komponisten gewünschte Assoziation mit der menschlichen Stimme dem modernen Publikum deutlicher gemacht werden könnte, als durch die Verwendung von zwei mächtig dröhnenden oder heiser flüsternden Tubas.

Ohne der – allzuoft ideologisch befrachteten – Konzeption einer konsequenten Wiederbelebung des Originalklanges, die ohnehin bestenfalls eine Annäherung sein kann, uneingeschränkt das Wort reden zu wollen, muß doch festgehalten werden, daß die Kenntnis der zeitgenössischen Spielpraxis sowie der besonderen Gegebenheiten des jeweiligen Instrumentariums auch dann von Bedeutung sind, wenn man die Musik einer bestimmten Epoche auf modernen Instrumenten ausführt. Dies gilt natürlich auch für die Musik des 19.Jh., die uns zwar im Vergleich zur sogenannten Alten Musik zeitlich sehr viel näher steht, im Hinblick auf die rasante technische Entwicklung der Musikinstrumente seit der Romantik und der daraus resultierenden Veränderungen von Interpretationsnormen indessen bereits als historisch zu bezeichnen ist. Aus der Beschäftigung mit authentischen des frühen 19 Jh. und deren Spielmöglichkeiten lassen sich immerhin Anregungen für eine Interpretation gewinnen, die einerseits den (vermuteten) Intentionen und Klangvorstellungen des Komponisten zumindest nahekommt, andererseits den modernen Hörgewohnheiten gerecht zu werden vermag.

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